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<center>'''''PUBLIKUMSBERATUNG von Kathrin Röggla'''''</center> | <center>'''''PUBLIKUMSBERATUNG von Kathrin Röggla'''''</center> |
Version vom 23. Juni 2008, 11:31 Uhr
Mai 2008
Horror vacui
„publikumsberatung“ von Kathrin Röggla am Neumarkt-Theater
Von Claudio Steiger
Alles beginnt wie ein normaler Vortrag. Alles beginnt nicht wie ein normaler Vortrag. Ein Mann steht aus der vordersten Zuschauerreihe auf und betritt die Bühne. Stellt sich vor als ein gewisser Franz Tröger, Miniaturspieluhrensoftwareproduzent und Teilhaber einer Konstanzer Unternehmensberatung, als Sponsor der Veranstaltung. Der eigentliche Redner des Abends sei leider ausgefallen, seinen Platz nehme Leopold von Verschuer ein. Dieser dürfe freilich nicht verwechselt werden mit seinem „Namensvetter“, welcher dieses Theater vor rund zwei Jahren verlassen habe...
„Sie werden hören, was Sie sonst gesehen haben. Sie werden hören, was Sie hier sonst nicht gesehen haben. Sie werden kein Schauspiel sehen.“ Diese berühmt gewordenen Worte aus Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ könnten auch für das doppelbödige Scheinreferat „Publikumsberatung“ von Kathrin Röggla stehen, das diese mit dem Schauspieler und Regisseur Leopold von Verschuer unter Co-Regie von Hedwig Huber ans Neumarkt-Theater bringt. Es spielt von Anfang an mit der Theater- und Publikumssituation und macht diese mit zum Thema. Dabei geht es aber nicht wie noch 1966 für Handke um einen Bruch mit Theaterkonventionen – Wo wären diese heute noch zu finden? – sondern um eine mehrdimensionale Ironisierung, die auch die Frage nach der Rolle der Zuschauer bereits humoristisch gebrochen stellt. Wir alle, Redner und Publikum, kennen unsere Derridas und Foucaults, wir alle sind im gleichen All-Text gefangen, den selben Diskurs(theori)en ausgeliefert. Zumindest wird dies für die Versuchsanordung „Publikum trifft Redner auf Abwegen“ einmal vorausgesetzt und auf geniale Art ernstgenommen.
Foucault, Deleuze, Killertomaten
Damit verschwimmen Ebenen, vergehen Sicherheiten. „Publikumsberatung“ befasst sich mit den Einbrüchen des Realen ins Fiktive und umgekehrt, stellt den Zuschauer vom ersten Augenblick an vor nachhaltige Orientierungsnot. Leopold von Verschuer als eigentlicher „Referent“ bestreitet den großen Hauptteil des Abends. Sein Redefluss beginnt mit der Frage nach Geschichte, die heute nicht mehr als solche „antagonistischer Widersprüche im Marx-Hegelschen Sinn, sondern als Firmengeschichte im Militärkontext“ stattfinde. Die alte sei kurzerhand ausgelagert worden, dorthin, „wo Ophelia im Rollstuhl sitzt“. Mit diesen Worten muss der Redner feststellen, dass er einen Text über Heiner Müller vor sich hat. („Ich habe Dir doch gesagt, Du sollst nicht wiederkommen, tot ist tot!“) Nach einigen Versuchen, das falsche Manuskript zum richtigen Vortrag zu machen, gibt er auf. Nur um sogleich zu einer irrwitzigen Reflexion über das „Drehbuch, das uns alle frisst“ anzusetzen. Und so erscheint zum ersten Mal das absurde Leitmotiv, dass die intellektuellen Mäander Verschuers fortan durchbrechen wird – die Frage nach dem Verbleib des einstmals so vitalen, nun aber „auf den Hund gekommenen“ Katastrophengenres (wunderbar „Schannre“ ausgesprochen): „Wo sind sie hin, die Riesenameisen, die Killertomaten, der tödliche Staub, die Killer-Hydra und die spezifischen intergalaktischen Missionen?“
Man sieht: „Publikumsberatung“ ist vor allem einmal sehr lustig. Das liegt zum einen an einer großartigen Komik Loriotschen Zuschnitts. Sie findet in der sehr differenzierten Gestik und Mimik Verschuers ihren perfekten Ausdruck. So versagt das Mikrofon seinen Dienst gerade dann in wechselnden Ausprägungen, wenn der Referent mit Jean Paul das Komische umständlich von Satire und Witz abgrenzen will. Das eigentliche Geheimnis des erstaunlichen Humors findet sich aber in der Kombination des absolut Disparaten, im Zusammendenken des völlig Zusammenhanglosen. Präzise verwandte, pathetisch verlesene Versatzstücke von längst zur Mode gewordenen Denkern wie Foucault und Deleuze werden durch ihre Integration in Trivialkontexte ad absurdum geführt. Ein superber Einfall wird hierbei zum Programm: Der Theaterabend, der fiktive Vortrag selbst, als dramatische Umsetzung seiner Zeit inklusive der ihr geltenden Analyse. Und wie ginge das besser als in Form eines wuchernden Scheinreferats ohne Anfang und Ende, eines Undings frei nach Derrida? Es gibt kein Außerhalb des Textes? Es gibt kein Außerhalb des Vortrags!
Abgründe
Doch weist „Publikumsberatung“ über heitere Ironie und bissige Satire hinaus. Es existiert eine zweite Ebene, die das ironisch Erledigte durch die Hintertür wieder zur Geltung bringt. Dieser fast schon dialektische Kippeffekt zwischen satirischer Komik und plötzlichem abgründigem Ernst prägt das ganze Stück. Damit zeigt sich auch, dass Kritik ihm nicht hinfällig geworden ist. „Publikumsberatung“ zeichnet gerade große Skepsis gegenüber jeglichem Zeitgeist aus. Dieser äußert sich, wie bei aller Verwirrung klar wird, nicht zuletzt in „Angstbiographien“ und dem allgegenwärtigen Erfolgsdiktat: „,Erfolg‘ ist das Password, mit dem man etwas durchwinken kann ins Licht der Öffentlichkeit.“ Der Beginn des 21. Jahrhunderts präsentiert sich neoliberal als eine Art „Neobiedermeier“: „Restauration braucht keine Theorie, keine Kritik.“
Und dann kommt Verschuer nicht zufällig – und brillant pathetisch auf den „Barock des Horror vacui, der Vanitas-Motive“ zu sprechen. Es schwingt Beklemmung mit. Tatsächlich ist es hier „nur einen Schritt zur Unheimlichkeit“. Und ist nicht unsere eigene Zeit von einem Horror vacui besessen, größer, mächtiger und vielleicht fataler als je zuvor? Die Diagnose, zu welcher „Publikumsberatung“ in diesen Leerstellen des Komischen gelangt, scheint ernüchternd. Nur nehmen sich Röggla und Verschuer als Kulturkritiker selbst nicht allzu ernst. Sie unterwandern ihr eigenes Unbehagen ironisch und machen es dadurch erst erträglich. Dass dieses Unternehmen so beeindruckend gelingt, ist in entscheidender Weise auch der Verkörperung der Schauspieler zu verdanken, allen voran natürlich Leopold von Verschuer als aberwitzigem Redner. In immenser gestischer Bandbreite und rhetorischer Vielfalt bringt er die Sprach- und Sinngrenzen überschreitende Herausforderung „Publikumsberatung“ überhaupt erst vom Text zum Leben.
Erkenntnis durch Fiktion
Ist kritisches Theater heute noch möglich? Oder hat es sich unter dem Rubrum „68“ erledigt? Kathrin Röggla und das Neumarkt-Theater geben die Antwort. Mit einem Stück, das mit unserer Zeit abrechnet, ohne bloss plakativ zu sein. Das den gesammelten Zumutungen der Post-Postmoderne aufs luzideste etwas entgegensetzt, ohne je im Ansatz zynisch zu werden. Ein Stück, das auch die Kritik an der Erfolgs- und Kontrollgesellschaft nicht verabsolutiert, sondern ihrerseits produktiver Ironie unterzieht. Weil wir alle mehr beteiligt sind, als wir ahnen mögen. Weil wir alle mehr mitspielen, als uns lieb sein kann.
Dieser Vortrag ist hochkomisch, melancholisch und nachhaltig erhellend zugleich, bewegt ebenso, wie er nicht eine Minute aus dem Lachen kommen lässt. Dies ist ein Theaterstück gegen die Zeit und für sie, gegen die Kritik an ihr und für sie. Damit kein Stück gegen alle, sondern zaghaft, wohlwollend-kritisch für uns alle, die wir das Meiste noch ein wenig werden ertragen müssen. Hier kommt ein Stück zum Vortrag. Niemand gibt hier vor, weiter als die anderen zu sein. Niemand erklärt hier die Welt. Hier wird keine Schaulust befriedigt. Hier ist kein Schauspiel zu sehen. Doch ist vielleicht zu hören, was sonst nicht zu sehen ist.
Ohne viel Aufhebens, ohne hochtrabende Ankündigungen, ohne akademische Supergescheitheit und vor allem: ohne kulturkritischen Klagemodus lüftet sich in „Publikumsberatung“ der Schleier um unsere fragwürdige Zeit ein gutes beeindruckendes Stückchen weit. Dabei wird im wuchernden Diskurs nichts auf den Begriff gebracht, aber vieles auf unheimliche Weise anschaulich. Dass dies ein letztlich nicht zu kalkulierendes, nur zu erhoffendes Moment des Theaters der besten Momente ist, schmälert die erreichte Leistung nicht. Denn Röggla, Verschuer und alle Beteiligten haben das beinahe Unmögliche möglich gemacht: Das Unspielbare hochgeistiger Reflexion durch einen genial fingierten, gleichermassen hellsichtigen wie absurden Vortrag auf die Bühne und in unsere Erfahrung gebracht. Am Schluss des Stücks geht denkwürdig zum ersten Mal der Vorhang auf. In der „Drehschraube des Fiktiven“ öffnet sich eine ganze Welt.
(Kritik, verfasst im Rahmen eines Seminars von Barbara Villiger-Heilig [NZZ] an der Universität Zürich)
Nachtkritik, 5. Mai 2008
Ein Vortrag in Falten
Ein Rednerpult vor dem Vorhang, ein «Sponsor» begrüsst die Gäste, in «Referent» tritt auf, der dann auch noch kurz seinen «Lieblingsschauspieler» anrufen wird: ein Schmankerl zum Abschied. Bald ist die Ära von Wolfgang Reiter am Neumarkt vorbei; da darf es schon mal eine «Einführung» sein.
Von Andreas Klaeui
Vorgetragen wird sie von Leopold von Verschuer, er hat sie gemeinsam mit Kathrin Röggla entwickelt. Verschuer war bis vor zwei Jahren im Neumarkt-Ensemble – es ist ja eigentlich ganz sympathisch, wie die Ära da zu Ende geht: Bevor Jarg Pataki Ende Mai Händl Klaus’ «Dunkel lockende Welt» herausbringen wird, verabschieden sich Ensemblemitglieder der letzten vier Jahre mit eigenen Projekten, vor einer Woche Christoph Rath mit seinem «Prometheus», jetzt Verschuer.
Dies hat etwas Programmatisches, in zweierlei Hinsicht: Projekte aus dem Ensemble waren Reiter von Anfang an ein Anliegen; aber es zeigt sich in diesen Projekten eben auch noch einmal in aller Deutlichkeit die Heterogenität dieses Ensembles, in dem Reiter Schauspieler aus ästhetisch ganz unterschiedlichen Richtungen zum künstlerischen Mehrwert zusammenbringen wollte. Er hat damit in seinen vier Neumarkt-Jahren nicht nur Glück gehabt.
Durch Erfolg zum Erfolg
Kathrin Röggla und Leopold von Verschuer wollen ihm jetzt jedenfalls einen Berater ins Haus schicken. Der hat ein vielversprechendes Referat im Gepäck: «Durch Erfolg zum Erfolg». Nur leider hat er abgesagt, wie der «Sponsor der heutigen Veranstaltung» (Franz Tröger) beschämt gestehen muss; also braucht es an seiner Statt eine Notlösung. Und das ist die Stunde Leopold von Verschuers. Der Mann ist ja die Quintessenz aller rednerischen Notlösungen – so unnachahmlich zerstreut, so zerknittert, so zerzaust, so rhetorisch hochfahrend und dann wieder unsicher in sich zusammenfallend! So hebt der Ersatzredner also an zu seiner «Einführung»; wozu, ist nicht das Thema, immerhin stellt sich ziemlich schnell am Abend die kardinale Frage: «Was ist ein erfolgreicher Zuschauer?» So ein Intendantenwechsel («ausgetauscht gegen zwei neue – halb so alte») lässt sich für ein treues Publikum ja nicht ohne weiteres wegstecken, da hat man sich nun vier Jahre lang auf Handschriften, Stimmen, Gesichter, Zumutungen eingestellt… Ersatzredner Leopold von Verschuer kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, von den Rezeptionskonkurrenten im Zuschauerraum auf den Barock, sein Lieblingszeitalter der Verästelungen, Schlingen, Manierismen. Er vergleicht die Halbwertzeiten von Tänzern und Schauspielern, um auf den Kapitalismus zu kommen und die verlorenen Ängste der Neunziger – Atomkraft, Gentechnologie, Klimakatastrophe, "muss man sich das wie einen kollektiven verdauungsvorgang vorstellen, und irgendwann sind sie eben durch?" Er schweift aus, er verpasst sich als Redner unentwegt, und trifft doch ins Schwarze.
Müller und Foucault tönen aus fernen Tagen
Er macht Umwege, er referiert in Falten, sozusagen, dieser selbst so faltige Redner, und natürlich ist es ein schönes Zeichen, dass hinter dem Rednerpult der geschlossene Vorhang die ganze Zeit seine Theaterfalten wirft. Das Passwort unserer restaurativen «neuen Biedermeier»-Tage, diagnostizieren Verschuer/Röggla, heisst «Erfolg» – und wenn sie dann Heiner Müller, Foucault, Deleuze als unzeitgemässe Gewährsleute anrufen, dann, muss man schon sagen, tönt das wie aus weit entfernten Tagen und bekommt in unsern glatten, faltenlosen Zeiten tatsächlich den Anstrich eines Skandalons. «Man will die Leute ja abholen, wie man heute sagt, abholen, immer Abholen das Publikum, wo es auch steht. Doch hat man es erstmal abgeholt, findet man meist den Weg nicht zurück.» In einem seiner wunderbarsten Ersatzrednermomente will der Referent ein Landschaftsbild projizieren und wird dabei nur vom Overhead-Projektor geblendet. Der zeigt kein Bild, lediglich eine weisse Fläche. Statt dessen tönt eine Klanglandschaft aus seinem Handy. Eine fiktive Landschaft ist da also zu sehen, eine Phantasielandschaft. Mit andern Worten: Theater. In kostbaren Momenten wie diesem steht das Neumarkttheater denn auch gar nicht mehr im Zentrum dieses Abschiedsschmankerls. Da geht es um mehr: um das Theater tout court.
Tages-Anzeiger Zürich, 29. Januar 2007
Landschaft mit Geistesblitzen
Sensationell, subversiv, süffisant: Das Theater am Neumarkt bringt Valère Novarinas Sprachschöpfungs-Schauspiel «Der rote Ursprung» auf die Bühne.
Von Monika Burri
«Wollen Sie wohl in meinem Leib an Stelle meiner eine Runde drehen?», fragt ein Satz in einer versuchsweise angebahnten Liebesszene.
Herkömmliche Sprechweisen werden parodiert, entfesselte Reimkaskaden fegen wie Wirbelstürme durch die vom Neumarkt-Ensemble mit ungemeiner Leichtigkeit hochgestemmte Sprachlandschaft aus Geistesblitzen, Wortbrocken und Lautmalerei. Die konventionellen Regeln des Satzbaus und des Sprechens sind in Valère Novarinas vulkanischem Sprachschöpfungs-Theater kunst- und genussvoll ausgehebelt. Weit und breit kein Dialog, kein Bemühen um Urheberschaft, Sprachhoheiten und gegenseitige Verständigung. «Die Wörter sind wie Magneten. Die Wörter sind Magneten zwischen den Dingen», schreibt der Autor über das Drama der Sprache und seine «wellenförmige Neugeburt» aus den Kräften der Analogie.
In Frankreich ist der Autor, Regisseur Maler und Fotograf längst Kult, der kreative «polyartiste» ist vom Geheimtipp zum künstlerischen Schwergewicht avanciert und zählt heute zu den wichtigsten französischsprachigen Theaterautoren. In der deutschsprachigen Kulturlandschaft hingegen ist der originelle Schöpfer theatralischer Universen noch immer eine unbekannte Grösse. Mit seiner Übersetzung und Erstaufführung von «Der rote Ursprung» gelingt dem Regisseur und Novarina- Experten Leopold von Verschuer eine imposante Nachbau- und Vermittlungsleistung. Das ganze Neumarkt-Ensemble scheint vom Geist Novarinas befeuert; an der Premiere am Samstag befiel einen streckenweise das Gefühl, der Bühneneroberung einer neuen Kunstgattung beizuwohnen. Dabei sind die spirituellen Ahnen verbürgt: Über Artaud hat Novarina eine theaterwissenschaftliche Arbeit geschrieben. Dantes «Göttliche Komödie» und die Bekenntnisse von Augustinus verzeichnet eine Biografle als Schlüssellektüren.
«Was sieht man von hier aus?», fragt sich eine Figur namens Illogiker, die mit einem Guckrohr auf die leere Bühne späht. «Sie ziehen sich knatternd ab, essen mit Karacho, machen Dampf», heisst es über die «Zitikolen, Urbinopel und Bedrückten», unter denen man sich gut das gegenwärtige Erdenvölklein vorstellen kann. Essen, Konsumieren, Kopulieren: Die verbreiteten Verrichtungen der Existenz werden schlicht unter dem Stichwort «Polsterung des Lebens» subsumiert. Getrieben sind die Figuren von tiefgründigen Fragen der Existenz. Wo ist der Sitz des Ichs? Aus was bist du Individuum? In einem Prolog und sieben Akten entwickelt sich so etwas wie eine kollektive Befragung menschlicher Sinnproduktion. Mit beiläufiger Süffisanz und diebischem Humor serviert das Ensemble existenzielle Gedanken zu Materialität und Flüchtigkeit, zu Endlichkeit und Ewigkeit. Präzise Sprachbälle, kunstvoll korrumpierte Wortflüsse und die mit Unterstützung des Trios WebtischGeiser adrett dargebotenen Liedeinlagen machen aus der dreistündigen Produktion eine unübersehbare Theatersensation.
Neue Zürcher Zeitung, Montag 29. Januar 2007
Das Drama von der begabten Sprache
Und wieder hat sich das Theater am Neumarkt eine Publikums-Verstörung verordnet – mit der deutschen Erstaufführung des Anti-Dramas «Der rote Ursprung» des Westschweizer Autors und in Frankreich hochgeschätzten Sprach- und Sprechkritikers Valère Novarina.
Von Daniele Muscionico
Der Fluchtpunkt des Abends ist kreisrund und schwarz. Er hängt im Zentrum des Spiralnebels im Bühnenhintergrund, ein Einschussloch in Zeit und Raum, der Zwischen-Raum, hindurchzuschau'n: in die Gedanken- und Bilderwelt des Valère Novarina. Es ist das schwarze Loch der Zeit, aus dem wir gefallen sind, meint der Autor – vertreten hier durch den furchtlosen Novarina-Experten und Schauspieler/Regisseur Leopold von Verschuer - weshalb zu diesem Zweck aus dem Lückenloch, dem Haarriss der Galaxis, ein entstofflichtes, wasserstoffblondes Evangelisten- Wesen (Catherine Janke) steigt und damit beginnt, unsere Vorfahren anzurufen Die Aufzählung des Evangelisten im «Anthropodrom» endet schliesslich im Hier und Jetzt, und damit ist der Abend bei sich angekommen, also bei uns, dem Jetztmenschen, dem Homo sapiens sapiens, der Krönung der Schöpfung und von Novarinas Dreigestirn und Obsession: Zeit, Tod und Sprache.
Zirkus Novarina
Am Anfang war das Wort. Novarina nimmt das Wort bei seiner Behauptung – und führt diese im Illusionsraum Bühne weiter, in paralogischen Umlaufbahnen einmal um die Welt und zurück zu sich selbst. «Der rote Ursprung», ein Stück ohne Handlung, eine «Göttliche Komödie» eines säkularen Zeitalters, das Evangelium eines Nihilisten und Abendmahl eines Anti-Christen, ein Silben-Theater, Vokale-Fest, Konsonanten-Variété, ein Zirkus der Sprechakte und eine Dressur der Wort-Tiere (Dauer drei Stunden samt notdürftiger Notdurft-Pause) zeigt in acht Schritten unser aller lächerliches, hoffnungsloses, verzweifelt komisches Bemühen, uns in der Welt, der Welt der Sprache, einzurichten. Hoffnungslos sind die Bemühungen des Novarina-Personals erwartungsgemäss: Denn kaum sind sie sich ihres Da-Seins bewusst, gilt es, gegen ihr Nicht-Sein anzureden, den Tod. Doch da der unsterblich ist...
Ein reduziertes, futuristisches Einheitsbühnenbild (von Claudia Grünig), szenische Anleihen bei Jarry, Artaud – Verschuer hat den Raum als eine Art Zeitmaschine gestaltet und entleert, um der Hauptdarstellerin Platz zu machen: der Sprache. Dabei kann er auf Novarinasche Wort- Träger und Platzhalter zählen, die den Abend zu der Entdeckung machen, die er ist. Das komischvitale Neumarkt-Ensemble, verstärkt um grandiose Gäste, formiert sich in seltener Geschlossenheit als subversiver, zu allem entschlossener Stosstrupp, der sich mit dem Autor vorgenommen hat, die Sprache auf den Kopf zu stellen und neu zu erfinden.
Im Pronominal-Sturm
Novarinas Figuren sind Ich-Wirbel, abstrakte Ideen- und Bedenkenträger, doch wenn Silke Geertz als «Gegensubjekt» ihre Burschikosität einsetzt, nagelt sie jedes Präsens an der Gegenwart fest. «Nihilmann» Eberhard Boeck verschimpft seine Worte in ungehörter Einsamkeit, und «Panthea» Kirsten Hartune stimmt angesichts des leeren Spiegels zu einem grossen «Selbstmord-Gesang» an und füllt abstrakte Gedankengebäude mit einer Stimme und Fleisch – nicht nur mit «Ich-Mus» und Knochen. Überhaupt besitzt Hartung das Talent, Novarinas Sprache wie Strom durch ihren Körper fliessen zu lassen, dass wir sie mit unseren Ohren zu sehen glauben. Auch Marianne Hamre, die als dadaistische «Sag-sieh-an-Maschine» aus Oskar Schlemmers «Triadischem Ballett» gestiegen sein könnte, verteidigt den vielschichtigen Sinn ihrer Worte mit einer trockenen Komik, der man das Leiden des Menschen an der Sprache ansieht. Und wenn Philipp Graber, Matthias Breilenbach, Boeck oder von Verschuer erfolglos versuchen, im «Pronominal- Sturm» standhaft zu bleiben («Nieder das Ego! Hoch lebe das Es!»), dann hat Verschuers Theater der sprachlichen Grausamkeit einen Höhepunkte erreicht. Es erreicht seinen Tiefpunkt, wenn das Trio «WebtischGeiser» sich inszeniert. Die erdenschweren Musiker bleiben im Novarina-Kosmos Ausserirdische und von Novarinas Sprachmagma unberührt — mag das ein Versäumnis der Regie sein oder die Kompetenz des Trios in Frage stellen. Doch man versteht, wenn nicht alle den Weg mit Novarina gehen wollen an den Rand des Wahnsinns und des Gehirns. Doch wer an dieser bedenkenswerten Erstaufführung bis in den entlegensten Winkel dieser Anderswelt mitgegangen ist, der wird es nicht bereut haben.
Tages-Anzeiger, 12. Mai 2006
Eine Lektion in politischer Inkorrektheit
Schön fies: Das Zürcher Theater am Neumarkt zeigt die Kunstsatire «Mein Arm» von Tim Crouch als Schweizer Erstaufführung.
Von Philipp Gut
Die linke Hand des Schauspielers Christoph Rath ist schwarz wie bei einer Mumie – und hochgebunden an einen Draht, der diagonal die Bühne gespannt ist. So bleibt sein Arm immer oben, während er sich bewegen kann wie ein Kettenhund auf dem Bauernhof. Rath gibt den namenlosen, aber weltberühmten Helden in «Mein Arm». Das Debütstück des Londoner Autors und Schauspielers Tim Crouch ist eine gnadenlose Satire auf den Kunstbetrieb, und dies ist die Story: Ein zehnjähriger Junge hebt eines Tages den Arm; warum, weiss er selber nicht, wie sollte er auch, schliesslich machen wir wichtigere Dinge im Leben, ohne zu wissen, warum – er hebt also einfach seinen Arm und lässt ihn dort. Oben. Für immer. Der Kunstmarkt entdeckt den Freak, als lebende Installation zieht er nach New York, ein Händler bezahlt ihm ein horrendes Honorar und erwirbt dafür die Weltrechte, den Arm nach dem absehbaren Tod des Helden «in einem ästhetischen Kontext» auszustellen.
Otto Waalkes meets Uma Thurman
Kunstsatiren auf dem Theater sind spätestens seit Yasmina Rezas «Kunst» ein Renner – und auch das Stück von Crouch hat, in kleinerem Ausmass, das Potenzial dazu. Zwar bietet es weniger gefälligen Witz, aber es ist schärfer – gerade auch in der gelungenen Schweizer Erstaufführung am Neumarkt. Regisseur Leopold von Verschuer und sein Dramaturg Albrecht Simons streichen das Freakige des Armhebers heraus und schaffen einen kompakten, schrägen, kompromisslosen Theaterabend, an dem nicht nur der Kunstbetrieb, sondern auch die Sozialmaschinerie in wünschenswerter politischer Inkorrektheit auf den Arm genommen wird. Unter einer Langhaarperücke, die den aus Ostfriesland stammenden Helden wie einen Zwitter aus Otto Waalkes und Uma Thurman aussehen lässt (das ist möglich, man sehe selbst!), streckt uns der grossartige Christoph Rath ein Schafsgesicht entgegen, dessen blasierte Züge sich blitzschnell in Besessenheit verwandeln können. Mit seiner Blässe, seinen hohlen Augen und geschminkten Lippen sieht er aus wie ein drogensüchtiger Popstar – und so was ist er ja auch. An einem Tischchen sitzend, den linken, verfaulten Arm immer schön hochgestreckt, erzählt er seine Geschichte, mit Hilfe von Gegenständen, die er wie in einem Puppentheater arrangiert. Crazy und doch glasklar analysiert «der Junge mit dem Arm» seinen Aufstieg, berichtet von den gescheiterten Therapieversuchen seiner hilflosen Umwelt. Er bekommt eine eigene Kinderpsychologin, später, in Berlin, wird ihm eine Sozialarbeiterin zugeteilt. Im Quartier Schöneberg hat er ein Zimmer, das er kaum verlässt, «ausser natürlich zum Sozialamt, um die Kohle zu kassieren». Mit 22 wird er amtlich als Behinderter registriert und erhält einenSchwerbehindertenausweis. Gleichzeitig beginnt seine Karriere als Kunstobjekt.
Kurzes Leben, lange Kunst
In einem Betrieb, in dem es nicht mehr im ursprünglichen Sinn ums Können der Kunst, sondern um Konzepte und Kontexte geht, formuliert sein Manager die Devise: «Kunst ist alles, was einem als Kunst abgenommen wird.» Am bitteren Ende wird das wortwörtlich der ominöse Arm sein, denn den Mann hat es «von den Fingerspitzen bis tief runter kompostiert». Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, wussten schon die Alten. Mit der Bach- Kantate «Ich habe genug» und deren munterem Satz «Ich freue mich auf meinen Tod» schliesst ein böser und zugleich amüsanter Theaterabend, der zum Besten zählt, was am Neumarkt in dieser Saison zu sehen war.
Neue Zürcher Zeitung, 17. Dezember 2004
Trieb, Täter, Theater
"Bahnhof Neumarkt", eine Groteske
Von Daniele Muscionico
Bis gestern hat man die Gewalttätigkeit des Wortes Ratschlag nicht bedacht. Doch dann wird uns, in Zürichs Beichtstuhlbühne an der Chorgasse, eine neue Kunstgattung offenbar, die solches verkündet: das Postkartentheater. Dieses ist vorsätzlich flach (70 cm beträgt die Raumtiefe), ist notwendigerweise eine Schrumpfform und zeigt, wie Gewalt in die Sprache kommt — und eine mit Ratschlägen geschlagene Kreatur in den Himmel.
Darauf gekommen ist einer, der in Zürich mit Garantie noch von sich reden machen wird: der Neumarkt-Ensemblist Leopold von Verschuer. "Bahnhof Neumarkt oder Wie viele Ohrfeigen verträgt Silke G.?" ist seine Visitenkarte als Schauspieler wie als Regisseur. In der ersten Funktion entpuppt er sich als Destillat aus Kinski, Brando und Louis de Funès. In der zweiten ist er ein Springteufel szenischer Phantasie, subversiv, zotig, lüstern und ätzend intelligent. "Bahnhof Neumarkt" zeigt im leeren Bühnenbild eine groteske Theater-Flachmalerei über den Menschen als eine Erfindung Karl Valentins, als ewig Zuspätgekommenen und zähnebleckendes Raubtier. Verschuer, René Schnoz und Silke Geertz (als Opferlamm Silke G.) spielen das Spiel von Täter und Opfer, Marionetten alle drei, menschliche Überreste ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, bewohnte Kleidungsstücke (Bühne und Kostüme: Claudia Grünig).
Wer weiss, dass Verschuer den Franzosen Valère Novarina als seinen Lieblingsautor nennt und dessen Texte ins Deutsche übersetzt, wird die Kompromisslosigkeit des Abends ahnen. Gnadenlos werden kompromittiert: die Sprache, das Theater und die Schauspieler selber. Mit böser Lust persifliert die Inszenierung jene Redensart, die einst als Marthalers "Unterhosen-Theaten" durch die Zürcher Szene gegeistert war. Doch wird man sich hier, wie gesagt, nicht nur in den Ausdrücken, sondem, völlig unmotiviert, auch in des Andern Gesicht vergreifen. Verschuers irrwitzige Geschichte, die auf kruden Umwegen zum Tod der Titelfigur führt, ist geräubert aus Texten von Kafka, Charms, Schwitters, lonesco oder Hitler. Wer hier mehr Form als Inhalt ahnt, wird Recht behalten. Vielleicht ist es auch nicht die gedankliche Tiefe, die den Abend zum Strahlen bringt; doch wer die. Sinnleere von Gewalt derart sinnlos darstellen kann, ist — zumal in dunklen Zeiten — auf jeden Fall ein leuchtendes Beispiel.