Die Musik des Chaos
Sehen wir uns dem ästhetischen Erlebnis der innovativen und zunächst befremdenden Unverwechselbarkeit des Radiostücks OtihOrih ausgesetzt, so stehen wir vor der Frage, ob dieses Werk nicht der erste ‚fraktale‘ Text der posteuropäischen Literatur sei (posteuropäisch, da OtihOrih gerade die Annahme zugrunde liegt, dass die Idee Europas, im Singular einer Einheit, gegenüber der - selbst ihr eingeschriebenen - historischen Realität exzentrisch und ihre Potenzialität grundsätzlich ihrer Aktualität nachträglich sei).
Weit jenseits der zersplitterten und magmatischen Nicht-Linearität des “stream of consciousness” stellt der textuelle Aufbau von OtihOrih insofern eine Klärung der formalen Struktur des Chaos dar, als dabei die stochastische Dynamik der aleatorischen Prozesse in ihrer tiefen ‚strukturellen‘ Notwendigkeit gelesen wird. Das Chaos ist ein System (eigentlich wundersamer Formen), wie die Mathematik im Laufe der Zeit eingesehen hat und zu beweisen sich bemüht, und wie es die Literatur darstellen kann, wenn sie den Mut gewinnt, einige ihrer gefestigtsten kulturellen Automatismen zu verabschieden, wie das Postulat ihrer symbolischen Selbstgenügsamkeit und die Idee, dass ihre kognitive Kontamination nur auf der Gehaltebene möglich sei.
Das dem Werk OtihOrih zugrundeliegende Vorhaben ist also, das kognitive und Ausdruckspotential von Literatur in neuartiger, geradezu revolutionärer Form deutlich zu verdichten, und zwar nicht einfach darüber, was gesagt wird (gemäβ einer traditionellen Schreibperspektive), noch bloβ darüber, wie es gesagt wird (gemäβ einem avantgardistischen Formalismus), sondern umfassender über die Mittel, durch die es gesagt wird (in einer ‚rizomatischen‘ Erweiterung des Sprachkodes).
Aus eben diesem Grunde sollte man im Falle eines literarischen Werks wie OtihOrih nicht von „Schreiben“ im engeren Sinne sprechen, weil die graphematische Dimension nur eine einzelne Komponente in einem komplexen semiotischen Konglomerat ist, wo der Sprachkode orchestral mit einer Pluralität von verschiedenen musikalischen und mediatischen Kodes und Sendern (Radio, Fernsehen, Internet) interagiert.
Die synergetische (aber oft auch verwirrende und widersprüchliche) Pluralität der kulturellen Botschaften, in der unsere Beziehung zur Wirklichkeit aufgebaut ist, ist in unserem Alltag eine bekannte und akzeptierte Tatsache. (Wenn wir darüber nachdenken, woraus unsere Kenntnis von öffentlichen Ereignissen wie zum Beispiel genau der berühmten, in OtihOrih ‚vorgestellten‘, Rede Hirohitos nach Japans Niederlage besteht, werden wir einsehen, dass unsere diesbezügliche Darstellung ein intrinsisch aleatorisches - und individuell höchst eigentümliches – Präzipitat ist, in dem veränderliche und unbestimmte Mengen von direkten und indirekten Informationen sich sedimentieren und wechselseitig verarbeiten, wobei diese Informationen aus verschiedenen Quellen geschöpft und über verschieden Medien rezipiert werden: Aus Zeitungen, Fernsehen, Radio, Kino, Büchern; sowohl aus historischen Berichten als auch aus ästhetischen Erfahrungen mit Kunstwerken - von Hokusai bis zu Mishima-; aus zufälligen oder geplanten biografischen Erlebnissen wie Reisen, Forschungen, Beziehungen zu Japanern, Ernährungsgewohnheiten wie der Vorliebe für oder der Abneigung gegen Sushi, usw). Wenn aber sich Bibliotheken mit den soziologischen Versuchen füllen, diese Pluralität in analytischer Objektivität (durch deren phänomenologische Beschreibung) zusammenzufassen, fehlte es bisher auf literarischem Feld an einem kohärenten Versuch, eine entsprechende ästhetische Vorstellung (als Vorstellung und nicht als Beschreibung der Bedingungen kognitiver Darstellung) zu artikulieren.
Genau dieses Ziel aber hat OtihOrih in seiner ‘dekonstruktivistischen Re-konstruktion’ der Bedingungen unserer Realitätskonstruktion - der Sprachbedingungen an erster Stelle. Dabei zieht uns die Polyphonie der unterschiedlichen Sprachen (der vier in OtihOrih sich überlagernden Sprachen), die auf verschiedene Weise dasselbe sagen (oder eher das Verschiedene auf dieselbe Weise sagen?), unter den Füβen den bequemen Teppich des ‚einen Denkens‘weg, das sich in unser aller Bewusstsein in offensichtlichem Widerspruch zum Kreolismus unseres kulturellen Unterbewuβtseins einnistet (weil die Sprache grundsätzlich Sprachen ist: Zur Enttäuschung jedes rationalistischen und historizistischen Monismus gelang es keinem der vielen imperialistischen Logiker und Philologen der Geschichte, den matrizialen Pluralismus des Sprechens zu widerlegen: Alle Versuche, eine Muttersprache aller Sprachen – von der adamitischen bis zum Sanskrit – zu erkunden, sind hoffnungslos gescheitert).
Wenn Otihorih, dieser revolutionär fraktale Text, somit für uns die rekursiven Formen des Chaos entziffert und so für uns seine Musik erklingen lässt (jene Musik, die wir nicht hören, weil wir sie im lauten Rauschen der Realität nicht zu erkennen wissen und oft in reines Geräusch implodieren lassen), wäre es dennoch durchaus irrtümlich, seinen ästhetischen Abschied von einer semantizistischen Vereinfachung der Wahrheit im Sinne einer formalistischen und ästhetisierenden Flucht aus der Realität zu deuten, denn ganz im Gegenteil setzt sich das Werk mit einigen zentralen Fragen unseres Lebens in der Gesellschaft auseinander.
Die wichtigste und fürchterlichste der in Otihorih behandelten Fragen ist die, ob es nicht der Krieg sei, der letzten Endes die Theologie bestimmt, indem die Politik nur dessen salonfähiges (bürgerliches) Gesicht darstellt (was uns eine der vielen Umkehrungen eingibt, zu denen uns der Text den Weg eröffnet, weil aufgrund dieser Annahme der Leitspruch der „Bellilogie“ umgekehrt werden muss: «Die Politik ist eine bloße Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln». "Lrak nov Ztiwesualc", alias Klaus von Clausewitz dixit). Der Krieg (ob ver- oder entkleidet unter dem Zivilanzug der Politik oder nicht) entscheidet, wer unsere Götter sind, weil die Sieger die Herrscher sind, welche das Pantheon ausstatten und die gefallenen, verfallenen, auβer Gebrauch geratenen Gottheiten hinauswerfen. Hirohito wird von einem amerikanischen General zum Menschen deklassiert, was nichts Neues ist: Gott ist derjenige, dem der Sieg zukommt, lernen wir im Alten Testament und das evangelische Interregnum (Selig sind die Erniedrigten) dauerte kurz - schon Konstantin kämpfte im Zeichen des Kreuzes. Was göttlich ist, ist die Macht (dass nicht das Göttliche die Macht begründet: genau dies behauptet zu haben, dafür wurde Jesus von der Kirche seiner Zeit gekreuzigt), und wer die Macht verliert, verliert die Gottheit – welche der hingegen erlangt, der wiederum die Macht gewinnt.
Es ist alles ursprünglich nur eine Frage des Willens, wie Schopenhauer lehrte: Das Sein ist eine Folge. Und in dieser nihilistischen Offenbarung der Geschichte ist die Epiphanie, die die Entmystifizierung der Gottheitstheologie in ihrem Wesen vom Willen zur Macht vollständig verkörpert, die ‘Kenosis’ des Kaisers in seinem unreinen, pikaresken Alter Ego, in dem die Souveranität all ihre unmoralische Substanz und den Triebarchaismus vorlegt, aus dem sie schöpft.
OtihOrih, der Mafioso und Schürzenjäger, der sanguinische und sinnliche, banale und niederträchtige Antiheld (es melde sich, wer den italienischen Regierungschef unserer kleinen Zeit nicht erkennt), ist das fotografische Negativ der göttlichen Erhabenheit als kriegs-politische Machterrichtung. Die Gewalt ist das Blut, das beide Seiten der entmystifizierten Erscheinung ernährt. Der Wille verkleidet sich immer und es gibt keine andere Wahrheit als zu erkennen, dass, was wir sehen, die Maske ist (und dahinter steckt erst sein Spiegelbild).