ÜBERSETZEN NACH JEAN DUBUFFET


Die Kunden der Buchhändler, erwarten sie wie ich, dass ein Werk sie ins Unbekannte versetzt, die gewohnten Rahmen der Sensibilität über den Haufen wirft, das Denken zu ganz neune Haltungen mitreisst?

(Jean Dubuffet)


Die Arbeit eines Übersetzers „unmöglicher“ Autoren ist unendlich. Und meine Autoren sind jene, die ich unbedingt auch in meiner Muttersprache, dem Deutschen, spielen wollte: der Französisch-Schweizer Valère Novarina mit seinen Lawinen von Neologismen, neuerfundenen Grammatiken und sich verkehrenden Sprachfiguren, durch ihn lernte ich den uruguayischen Lissabonner Álvaro García de Zúñiga mit seinem Latino-Französisch, seinem virtuos unbekümmerten Jonglieren mit Fremdsprachenfehlern, welcher mich wiederum den jüdisch-rumänischen Staatenlosen Ghérasim Luca entdecken liess mit seinen Auftürmungen von Homonymen und „Kofferwörtern“, wo jedem vorherigen immer weitere neue entsteigen. Durch diese drei habe ich den lebenslänglichen Limbus der Übersetzer kennengelernt. Oder wie wollen Sie „La lumière nuit.“ übersetzen, ein Satz, der bei Novarina in fast jedem Stück einmal vorkommt: „Das Licht schadet.“ oder „Das Licht nacht.“? Und wie beides zugleich? In meiner Verzweiflung habe ich mich entschieden, jedes Mal eine andere Variante hinzuschreiben. – Oder Zúñiga: „Pressé, haut, mon cortex range mon. Orange.“? Daraus wurde: „Mein Kortex ist das ge-oben grenzte Abfeld meines. Sine – vom Baum – nicht weit.“ Aber fragen Sie mich jetzt nicht, wie ich darauf komme! – Und schliesslich gleich der erste Satz in Lucas „Qui suis-je?“: „Évidemment / les vies demandent / l’évidement.“? „Unendlich / begehren unsre Leben / sich endlich zu entlehren.“ Naja! Da diese dramatische Miniatur von kaum sechzig kurzen Zeilen, bzw. 4 Minuten Bühnenzeit, an der ich aber übersetzend einen ganzen Sommer sass, mit Selbstmord endet, kann man sich denjenigen des Übersetzers gleich hinzudenken. Vom ersten übersetzten Wort von Novarinas „L’Opérette imaginaire“ bis zum Erscheinen des Buches vergingen drei Jahre. Und wenn Sie es aufschlagen: Ungenauigkeiten, Rhythmusfehler, unterschlagene Wörter. Und dann dieser unvermeidliche Rest von Unübersetzbarem, der ihnen mit ausgefahrenen Krallen in die Augen springt wie eine Katze, die Sie streicheln wollten, um das schlechte Gewissen zu bemänteln. Wer ermutigt, wer unterstützt den einsamen Übersetzer darin, sich solchen Herausforderungen zu stellen?


Was mich am meisten berührt hat in dem Essayband „Valère Novarina – théâtres du verbe“ , der Gedanken von 35 Autoren und Künstlern versammelt, das waren die Briefe, die Jean Dubuffet zum Ende seines Lebens hin an Valère Novarina geschrieben hat. Diesen Faden aufgreifend stiess ich auf „Bâtons rompus“, wörtlich „Vom Hölzchen aufs Stöckchen“, in der deutschen Ausgabe ,,Die Autorität des Vorhandenen“ , einen fiktiven Fragebogen, den Jean Dubuffet über seine Arbeit als Maler verfasste. Er ruft in Erinnerung, dass er „mit dem Namen Art brut die Gesamtheit der Arbeiten bezeichne, die nicht aus dem Umkreis der kulturellen Kunst kommen“, dass sein Werk durch sie „ermutigt und stimuliert“ wurde, „weil der Anblick von Beispielen mich zu der Überzeugung gebracht hat, dass man umfassendere und fruchtbarere Ausdrucksmittel entdecken kann, wenn man andere Wege geht als die der kulturellen Kunst“. Diese Ausführungen haben mir eine frische Sicht eröffnet auf die Lektüre des Wort-Theaters von Novarina und, in der Folge, von Zúñiga et Luca. Wie aber lässt man sich als Übersetzer aus dieser reichen Quelle des Art brut stimulieren (siehe zum Beispiel die Schriften des schizophrenen Adolf Wölfli )? Fragen wir Jean Dubuffet :


Kreativität des Übersetzers


„Vom Hölzchen aufs Stöckchen“, Antwort 22 : „Ja, es ist richtig, dass mir gerade Bilder, die ich verpatzt oder die ich irgendwann abgebrochen habe, die Augen für neuartige gestalterische Mittel geöffnet haben. Diese Mittel habe ich dann anschliessend bewusst eingesetzt.“ A. 25: „Unter richtigem Zeichnen versteht man normalerweise, dass man sich in der Genauigkeit der Zeichnung einer photographischen Abbildung nähert, doch gerade das heisst für mich, falsch zu zeichnen beziehungsweise gar nicht zu zeichnen. (…)“ usw. Erlauben Sie mir versuchsweise, diese Zeilen aus der Sicht des Übersetzers anders zu lesen, und zwar folgendermassen: „Unter richtigem Übersetzen versteht man normalerweise, dass man sich in der Genauigkeit der Übersetzung einer linguistisch korrekten Wiedergabe nähert, doch gerade das heisst für mich, falsch zu übersetzen beziehungsweise gar nicht zu übersetzen.“ Und ebenso weiter: „Von jeder künstlerischen Produktion, und sei sie noch so schlicht (frz. „humble“, was auch „demütig“ heisst, und welche Arbeit fordert mehr Demut als die des Übersetzers!), verlangt man auf jeden Fall, dass sie kreativ ist. Eine linguistisch korrekte Wiedergabe ist auf keinen Fall kreativ. Wenn man bei der Definition bleiben will, wonach richtiges Übersetzen die genaue Wiedergabe eines sprachlichen Eindrucks bedeutet, dann würde ich sagen, dass die Kunst da beginnt, wo man anfängt, falsch zu übersetzen, und je falscher die Übersetzung, desto höher ist der Anteil von Kreativität.“ Aber sollte sich der Übersetzer wirklich in dieser Weise kreativ einbringen? Das hiesse Mut zum falschen Übersetzen, Mut zum Misslingen! Ich hab’s ausprobiert und ich kann ihnen sagen: es funktioniert!


Das Unendliche, das Nie-Endende des Übersetzens


A. 55: „Es kann sogar sein, dass man das beste an einem Werk verliert, indem man es verwirklicht. Es ist dann wie ein aufgespiesster Schmetterling, der zu fliegen aufgehört hat, kurz gesagt, also aufgehört hat, ein Schmetterling zu sein. Es kommt zweifellos aus diesem Gefühl, dass mir meine Arbeiten grössere Befriedigung verschaffen, wenn sie nicht fertig sind. Ich mag es, wenn sie daherkommen wie unterbrochene, unfertige Werke. Nur unter dieser Bedingung kommen sie mir lebendig vor und behalten so, wenn sie abgeschlossen sind, etwas von dem Glanz von Werken, die noch nicht gemacht sind.“ Es hat also sein Gutes, nie fertig zu sein, gleichsam mit erhobener Nadel zu verharren. Ich bekam es vor Augen geführt, als ich mich 2001 in Bremen für eine szenische Lesung meiner noch längst nicht abgeschlossenen Übersetzung „Der rote Ursprung“ von Novarina einfand. Es sollte, wie ich zu meinem Schrecken dort erst erfuhr, ein Übersetzerpreis verliehen werden. Nun ja: ich bekam ihn dann doch, diesen Preis, und ich beschloss, ihn eben dafür in Empfang zu nehmen, dass meine Übersetzung nie abgeschlossen sein würde. Und indem ich heute an der Strichfassung dieses überlangen Stücks für die deutschsprachige Erstaufführung in Zürich sitze, entdecke ich immer neue Varianten und Verbesserungsmöglichkeiten.


Der Übersetzer als Nachahmer ? oder gar als Fälscher ?


Frage 58: „Wie ist ihre Reaktion, wenn Sie mit Nachahmungen ihrer Werke konfrontiert sind?“ – Und Ihre, Herr Novarina, Herr Zúñiga, Herr Luca? – A.: „Ich kann nicht anders, aber der Anblick einer solchen Arbeit rührt mich, zeigt sie doch, dass ihr Autor meine Werke mag. Es gibt alle Stufen der Nachahmung.“ A. 59: „Sie beziehen sich darauf, in welchem Masse ein Nachahmer sich die inneren Triebkräfte des imitierten Werks zu eigen macht. Manche imitieren nur die äussere Form eines Werkes, sein Aussehen, andere dagegen dringen tiefer ein und übernehmen seine Motive und Ziele, die geistigen Positionen, die es initiiert und angetrieben haben, um daraus Entwicklungen abzuleiten, die zu einem anderen Ergebnis führen. Das ist schon besser.“ F. 60: „Es gibt auch den Fall, dass schlicht und einfach gefälscht wird.“ A.: „Ich überzeugt, dass bei Fälschern zum Teil auch ein rührender Anteil echter innerer Neigung zu den imitierten Werken hinzukommt. Vielleicht sind die Fälscher sogar aufrichtiger als der Nachahmer, der mit dem eigenen Namen signiert, weil sie die Früchte ihrer Arbeit dem Künstler zuschreiben, den sie kopiert haben. (…)“ – Sollte ich also ab jetzt meine Übersetzungen mit den Namen Novarina, Zúñiga, Luca signieren? – „(…) Letztlich kann man sagen, dass jeder Künstler ein Fälscher ist, der sich bemüht, das zu tun, was er sich vorstellt, dass der wunderbare Künstler tun würde, welcher unaufhörlich im Kommen ist und den er verkörpert.“ !!!


Falsch schreiben – falsch übersetzen?


A. 78: „Man müsste sich bewusst entscheiden, falsch zu schreiben, zu schreiben „wie ein Schwein“. Da eröffnet sich ein Feld, auf dem viel zu entdecken wäre.“ Es gibt ganz gewiss einen kräftigen Anteil an „Falsch-schreiben“ im Werk Valère Novarinas wie auch García de Zúñigas. Als Maler hat Novarina Bilder geschaffen, die er „vilaines peintures“ – „hässliche Bilder“ – betitelt hat. Ich habe sie gesehen: Aufgabe erfüllt, sie sind es! Die Frage drängt sich auf: Wie ist dieses „Falsch-schreiben“ zu übersetzen? Müsste man nicht, als getreuer Fälscher, auch „falsch übersetzen“? Was die Treue angeht, eine Terminus, der glücklicherweise erst jetzt in diesem Gedankenspiel auftaucht, so entfuhr es Novarina in einer Übersetzerrunde: „Liebe trägt weiter als Treue!“


Für ein gepfefferteres Theater


A. 101: „Den Werken des Theaters und der Malerei ist meiner Ansicht nach der Status als Schauspiel (spectacle!) gemeinsam. Ich denke dabei nicht an unser klassisches Theater, das mir fade und zu veristisch erscheint. Ich wünsche mir eine gepfeffertere Form von Theater; das der Clownsnummern zum Beispiel, oder der Jongleure, oder auch das Marionettentheater. Umsetzungen dieser Art wünsche ich mir, gegenüber dem täglichen Leben stark verkürzend, wodurch es auf eine wirklich theatralische Ebene gehoben wird. Ein Theater, das dick aufträgt.“ Es gibt für mich keinen Zweifel, dieses Theater, bei meinen drei Autoren werden Sie es finden, vielleicht anders, als der Begriff „gepfeffert“ erwarten lässt, sie verbinden das Überraschende des August mit der Strenge des Weißclowns, eher als Jongleure sind sie Akrobaten, und man wird gepackt sein wie im Zirkus, wenn ein Trommelwirbel die atemlose Stille vorbereitet, die sich in einer halsbrecherischen Figur entlädt, einem Luftsprung in die Sprache. Und als verliebter Fälscher erfinde ich sie neu in einem Deutsch, bei dem sich seither noch jedem Theaterdirektor oder Dramaturgen deutscher Zunge die Haare aufstellen bei dem Gedanken, wer das bloss inszenieren solle.



Leopold von Verschuer

Erschienen auf Französisch in MIMOS [1-2], Genf 2006


Siehe dazu auch in viceversa 2 (Jahrbuch der Literaturen der Schweiz):

Valère Novarina/Leopold von Verschuer

"Der Text wurde nicht übersetzt. Nein. Er ist gestorben und wieder auferstanden." Von Anne Fournier

(Limmatverlag, 2008)



Leopold von Verschuer

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