Wiener Weichenstellung
von Leopold von Verschuer
Wien ist mir um so unausweichlicher, als schon meine Urgroßmutter mütterlicherseits, Dora von Stockert-Meynert, Tochter von Theodor Meynert, dem zeitweiligen Vorgesetzten des jungen Sigmund Freud, nicht nur eine Wiener Salonschriftstellerin und Verfasserin des preisgekrönten Dramas Die Blinde war, sondern auch ehrenamtliche Präsidentin des Vereins weiblicher Künstlerinnen Wiens. Ihr Schwiegervater, Eisenbahnfachmann Fritz von Stockert widmete seine Laufbahn dem Ausbau der Nordbahn von Wien nach Galizien inkl. Wiener Nordbahnhof und wurde dafür von Kaiser Franz-Joseph noch rechtzeitig vor Abschaffung der Monarchie in den erblichen Ritterstand erhoben, sein neu zugelegtes Wappen trug als zentrales Motiv ein geflügeltes Eisenbahnrad. Nach ihm benannt ist im Stadtteil Neuwaldegg ein abschüssiges Plätzchen. Seine Enkelin, meine Großtante Emmi, Künstlername Emmering, verkörperte 1921 immerhin neben Adele Sandrock die Lore im Stummfilm Violet von Artur Holz. Den Darsteller des Gärtnerburschen Andreas, den späteren Rundfunksprecher Paul Liharzik, Künstlername Gerhardt, ehelichte sie späterhin und gründete die Schauspieleragentur Emmi Emmering, die in der Tuchlauben im 1. Bezirk den Krieg überlebte. Wohingegen wiederum mein Vorfahr väterlicherseits, der Niederländer Otto Christoph van Verschuer, um 1697 persönlich vor den Toren Wiens unter Prinz Eugen von Savoyen gegen die Osmanen focht, die nun in Berlin-Neukölln meine Nachbarn sind, und dafür von Leopold I., auch Türkenpoldi genannt, in den reichsunmittelbaren Freiherrenstand erhoben wurde. Ich verdanke Wien also viel, unter anderem meine Frau Kathrin Röggla, deren erstes Theaterstück Fake reports am Wiener Volkstheater mir den unvergesslichen Kritikersatz eintrug: "Theater hat daraus nur einer gemacht: der Dicke im peinlichen Transparenthemd. Er heißt Leopold von Verschuer." Den Missetäter zieht es halt zurück an den Ort seiner Taten. ... Ich komme!