DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE SPIELEN
Warum begegnen einem auf deutschsprachigen Bühnen allenthalben die gleichen Rhythmen, die gleichen Bewegungsabläufe, eine zum Verwechseln ähnliche Behandlung der Stimmen? Wenn gebrüllt wird, wird überall gleich gebrüllt, wenn geschluchzt wird, wird überall gleich geschluchzt, der Einsatz der Körper scheint trotz aller Individualismusbehauptung einer völlig uniformen Grundausbildung zu entstammen, wie es in vergleichbarer Weise nur die Armee hinkriegt: Ein Schauspieler stürmt auf die Bühne, hält plötzlich inne, blickt um sich, erstarrt, holt Luft, hebt den Blick und beginnt, wie vorauszusehen, zu sprechen, zunächst in Moderater Mittellage, dann allmählich lauter, um bald darauf unvermittelt zu verstummen, nach einer kleinen Pause noch einige Worte leise nachzusetzen (ergreifend). Zu Beginn eines jeden Satzes ist bereits seine Länge vorhersehbar. Der Sprechrhythmus ist innerhalb der Sätze und Wörter gleichmäßig und ungeachtet des Anspruchs auf realistisches Spiel weit entfernt von der Sprunghaftigkeit, rhythmischen Vielfalt und Unvorhersehbarkeit lebendigen Sprechens an der nächstbesten Straßenecke. Ein Nachbar, der uns gemäß den Realismusgepflogenheiten deutscher Schauspieler am Gartenzaun an-spricht, dürfte allenfalls verblüfftes Schulterzucken ernten.
„Jetzt laßt uns nicht reden, sondern machen!“ - auf Proben gern gesagt und oft gehört. Es wird schon auffällig, wie wenige Schauspieler und Schauspielerinnen bereit sind, ihre Arbeit theoretisch zu reflektieren, geschweige denn zu begründen. Denken soll der Regisseur. Dramaturgen verdammt man sowieso in Bausch und Bogen. Als wesentliche Instanz wird dabei gern der „Bauch“ gegen den „Kopf“ ins Feld geführt. Irrigerweise könnte man nun glauben, damit werde der Körper des Schauspielers als sein eigentliches Instrument herausgestellt, also ein gezielter Einsatz von Bewegung und Stimme, ein erweitertes musika-lisches und physisches (meinetwegen tänzerisches) Bewußtsein gefordert. Tatsache ist aber, daß von Zielvorstellungen oder Bewußtsein keine Rede sein kann. Die Instanz „Bauch“ muß vielmehr für eine diffuse Vorstellung von zwanghafter Gefühlskontinuität im Gestaltungsvorgang auf der Bühne herhalten, um ein im Grunde konventionelles Rollenverständnis nicht rechtfertigen zu müssen. Hinter der Haltung „Bauch statt Kopf“ im Sinne von „Gefühl statt Intellekt“ verbirgt sich paradoxerweise sogar eine Unterschätzung des Körpers bei der Gestaltung von Raum und Zeit der Aufführung. Seine Ausdrucksmöglichkei-ten werden als „Mittel“ bezeichnet, also hierarchisch untergeordnet, um eine „Figur“, vielleicht auch ihre „Entwicklung“ darzustellen, wobei oberste Instanz für die „Wahrhaftigkeit“ der Darstellung ausschließlich jenes Gefühlskontinuum ist, das nach einem rein kausal gestrickten Muster linear „von da nach da“ führt, von einem (Gefühls!-)„Zustand“ zum nächsten und übernächsten und so weiter.
Völlig abwesend ist in dieser Art schauspielerischer Beschäftigung das, was man in der bildenden Kunst und Musik Materialbewußtsein nennen könnte. Wobei an diesem Punkt die völlige Verwirrung über die Begriffe „konkret“ und „abstrakt“ das Gespräch erschwert: Wenn ein Schauspieler oder eine Schau-spielerin zu einem Mitspieler oder einer Mitspielerin sagt: „Jetzt werd’ doch mal konkret!“, ist meistens eine Regieanweisung auf der Handlungsebene des Stückes gefragt, d.h. es geht um die Wahl der Zeichen, die durch den Zuschauer gelesen bzw. gedeutet werden sollen, mithin um die Ebene der Abstraktion: „Was bedeutet es, wenn ich dies oder jenes tue?“ Und jedes Bedeuten ist Abstraktion, weil es über das Materielle (physische, räumliche, stimmliche...) der Darstellung hinausweist. Kurioserweise verstehen jedoch viele Schauspieler unter „abstrakt“ lediglich ein nicht narratives Vorgehen, z.B. wenn scheinbar willkürliche Aktionen keine zusammenhängende Handlung erkennen lassen. Dabei sind als konkret eigentlich nur die theaterspezifischen Materialien der Darstellung zu bezeichnen: der Umgang mit dem Bühnenraum, Bewegungsvorgänge, Rhythmus, stimmliche Vorgänge usw., und zwar vor ihrer Deutung als Zeichen des drama-tischen Geschehens.
Kein bildender Künstler, kein Maler, kein Komponist, auch kein Sänger würde den wachsamen Umgang mit seinen Materialien, mit Farben, Tönen oder mit seiner Stimme als abstrakt bezeichnen, da sie nicht nur die Voraussetzung, sondern das ureigenste Material seiner Kunst sind. Die Grenzen, die ihr Material diesen Künstlern auferlegt, sind der Widerstand, der überhaupt erst zum spezifischen Ausdruck führt. Nicht in erster Linie das Motiv eines Bildes, sondern der Umgang mit dem Stoff Farbe, mit ihrer Materialität, die Art des Pinselstrichs machen die Unverwechselbarkeit eines van Gogh (ein Maler, den sogar Schauspieler kennen) oder Cy Twombly aus.
Zugegeben: in anderen Künsten ist da die Trennung: ein Gegenüber von Künstler und Material. Das Material des Schauspielers aber ist zuallererst sein eigener Körper, sind seine Organe, ist er oder sie selbst. Sein Menschenbild, seine Wahrnehmung der eigenen Person und Persönlichkeit bestimmen damit wesentlich sein Verständnis von Material. Da auch noch der Gegenstand der Darstellung in den meisten Fällen ebenfalls eine Person, ein Mensch, ist, kommt es zur allergrößten Konfusion. Durch die Verwechslung von Material und Gegenstand wird die Erforschung der Möglichkeiten und Grenzen des Materials oft ausschließlich im Bereich der Motive und Bedeutungen gesucht, also in einem grenzenlosen Feld. Das führt zu einer Überfrachtung mit inhaltlichen Absichten und zur Verarmung im Umgang mit dem (deutungsfreien) Material. Nun sind aber „Begrenzung“ und Reduktion an sich kein Übel. Monotonie in der Musik zum Beispiel führt entweder zu geschärfter Aufmerksamkeit für kleinste Verschiebungen in Ton und Rhythmus, oder, wenn es auch die nicht gibt, zur Beobachtung der sich wandelnden eigenen Wahr-nehmung des Hörers. In beiden Fällen führt die Reduktion zu Konzentration. Davon kann aber bei der üblichen Motivüberfülle sogenannter psychologischer Darstellung im Theater nicht die Rede sein. Das Primat der Bedeutung über das Material führt zu einer seltsamen Geheimnislosigkeit auf vielen Bühnen.
Die stromlinienförmige Entscheidungsstruktur der meisten Theater und die Dominanz der Regie führen dazu, daß Schauspieler wie dressierte Tiere auf die Bühne geschickt werden. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ein Theater läßt sich vermutlich nicht von dreißig Schauspielern leiten. Außerdem entfaltet sich das Anarchische, das Kunst innewohnt, leichter in verantwortungsloser Position. In gewisser Weise liegt die Verantwortung des Schauspielers darin, sich möglichst verantwortungslos auf der Bühne zu bewegen, um aus der Fülle arbeiten zu können. Also liegt seine Aufgabe darin, die Strukturen zu unterlaufen, schneller zu sein als die Regisseure, Entscheidungen zu treffen, wo die Regie noch denkt, formale, ästhetische Vorgaben auszuführen und gleichzeitig zu unterlaufen, jeder Systematik die Eigengesetzlichkeit des Materials entgegenzuhalten: wo Monotonie gefordert wird, zu singen, wo Sprachbehandlung gepredigt wird, unmerklich zu stottern, wo chorisch gearbeitet wird, die Abweichung als Versehen zu integrieren, wo individualisiert wird, den Mitspieler schamlos zu imitieren, weil jede Imitation unweigerlich die Unter-schiede hervorhebt, wo Geheimnis beschworen wird, die pure Oberfläche zu bieten, denn was ist geheimnisvoller als die Oberfläche, da sie etwas zu verbergen scheint. Das aber heißt: die Strukturen studieren, das Material untersuchen in jeder Lebens- und Arbeitslage, das Arbeitsfeld von Augenblick zu Augenblick immer neu bestimmen, um es eingrenzen zu können, Grenzen suchen, da sie den Ausdruck herausfordern, nicht verschiedene Ausdrucksmaterialien wahllos gleichzeitig bearbeiten. Zwischen Wort und Stimme unterscheiden, zwischen Wort und Bewegung unterscheiden, zwischen Haltung und Position im Raum unterscheiden, zwischen personeller und räumlicher Konstellation unterscheiden, zwischen Emotion und Musik unterscheiden, zwischen Konzentration und Starre unterscheiden, in jedem Augenblick so „spielen“, als könne man im nächsten Augenblick abbrechen: sich lösen vom Zwang zur Kontinuität, von der festen Vorstellung, was worauf zu folgen habe, sich lösen von der armseligen Vorhersehbarkeit, in der der Mensch und gleichzeitig die Welt als zwanghaftes Monstrum dastehen. Wieviel erschütternder ist die hereinbrechende Tragödie, wenn immer spürbar bleibt, daß nichts zwangsläufig ist und alles in jedem Au-genblick auch ganz anders kommen wird, wenn nichts vorhersehbar ist und das Geschehen sich ausschließlich im JETZT bewegt.
Materialität unterliegt einem anderen Zeitbegriff als jede Handlung. Ein Stein hat keine Zukunft. Das Geräusch einer Fliege bedeutet nichts anderes, als daß es da ist. Dennoch kann der Flug einer Fliege im falschen, also richtigen Moment den Schmerzensschrei des Prinzen von Homburg vergessen machen. Was bleibt: Den Schmerzensschrei des Prinzen von Homburg zu spielen wie den Flug einer Fliege, als Evidenz, nicht als Drama „von da nach da“. Das Werkzeug nicht verstecken, den Schweiß nicht ignorieren, sondern ihn abtrocknen. Wenn das Werkzeug sichtbar ist, bleibt auch der sichtbar, der es führt. Die Person, die der Schauspieler ist, ist da. Vielleicht gibt es ja doch nichts Schöneres, als einen Menschen zu erkennen. Also: erkennbar sein - denn darzustellen gibt es da nichts. Eher schon dazustehen. Lange habe ich keinen Schauspieler mehr dastehen sehen, einfach nur dastehen, mit hängenden Armen, wie es der Schwerkraft entsprechend am leichtesten ist. Wo sonst als auf der Bühne.
Leopold von Verschuer
Erschienen April 2001 in ‚Theater der Zeit‘, Berlin